Notfallmedizin – Mehrkämpfer der Medizin

Häufig werde ich gefragt, warum ich mir denn die Notfallmedizin antue. Man kann doch keinen Spass daran haben zu allen Tages- und Nachtzeiten, unter allen (un-) denkbaren Bedingungen, häufig für wenig oder gar keinen Lohn menschliches Leiden zu erleben. Puh, gar nicht so leicht hierauf eine einfache, ehrliche und verständliche Antwort zu geben...

 

Zunächst bin ich ein unverbesserlicher Bekenner zum Altruismus: Für mich stellt es weiterhin ein großes Privileg und sehr angenehmes Gefühl dar anderen Menschen zu helfen und ihnen in schwierigen Zeiten bei zu stehen. Die Medizin ist hierfür (neben anderen Bereichen) ein Paradebeispiel. Ich verspüre keine Freude an Unglücksfällen, Schicksalen und Leid, ich bin wahrlich nicht g... drauf! Daher bin ich auch für Prävention statt Reaktion. Aber dennoch passieren schreckliche Dinge und meine Tätigkeit ist dann aus dieser gegebenen schlimmen Situation das Beste für den Betroffenen zu machen. Ich habe mir schon häufiger anhören müssen dies sei ein beschönigender Blick durch eine rosa Brille. Ich widerspreche jedoch entschlossen: Für mich ist diese Einstellung real, praktikabel und erfüllend. Gerade durch mein christliches Menschenbild erfüllt mich diese Grundeinstellung und ich lasse mich nicht davon abbringen.

 

Ganz selbstlos bin ich dann jedoch auch nicht, oben habe ich ja auch schon von Erfüllung gesprochen. Ein anderer passender Begriff ist der Reiz und die Motivation für die Tätigkeit. Es ist völlig legitim und auch wichtig, dass man selbst einen Benefit aus seinem Tun erfährt.

 

Meiner Meinung nach kann man dies am besten durch Vergleiche mit anderen Lebensbereichen erklären:

 

Es ist zwar kräftezehrend, aber gleichzeitig mein Antrieb und der Reiz für mich: Sich schnell in ein akutmedizinisches Ereignis ein zu denken um es dann gemeinsam mit einem Team (ggf. unter widrigen Bedingungen) zu bewältigen. Und dies in allen Bereichen, welche die Akutmedizin zu bieten hat – von der Geburt bis hin zum geriatrischen Notfall, vom Trauma bis zur Stoffwechselentgleisung.

Eine sportliche Assoziation ist für mich daher der Zehnkampf, auch wenn es mehr als zehn Bereiche der Akutmedizin gibt. Manchmal ist Ausdauer (verbunden mit strategischem Denken) gefragt, dann wieder Schnelligkeit bzw. Kraft, oft verbunden mit manueller Geschicklichkeit. Man könnte es auch als maximale Vielseitigkeit bezeichnen. 

Nie wird man das Level eines Spitzenathleten einer Einzeldisziplin erreichen, sonst hätte dieser wohl auch was falsch gemacht. Mit großem Respekt und oft auch Bewunderung blicke ich auf die „Großmeister“ EINES Fachs. Dieses Wissen und die Fertigkeiten werde ich nie erreichen, was für mich aber keine Niederlage darstellt und ich lerne gerne von den Expertenratschlägen. 

Es ist sehr schwer gleichzeitig Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Geschicklichkeit zu trainieren und fordert einen ganzheitlichen Ansatz. 

Wie im Sport muss man auch in der Notfallmedizin an die Regeneration denken. Diese wird in beiden Bereichen jedoch oft unterschätzt und daher vernachlässigt. Im Sport spricht man dann von „Übertraining“ und „erhöhtes Verletzungsrisiko“, in der Notfallmedizin neben einem „Verletzungs-/Erkrankungsrisko“ auch von „Burn out“. Wenn Körper, Geist und Seele keine Zeit und Gelegenheit bekommen sich zu erholen ist man erschöpft und fühlt sich ausgelaugt. Es tritt genau das Gegenteil ein von dem, was man sich vorgenommen hat – die Leistung sinkt drastisch, die Motivation ebenso.

Einen Unterschied gibt es dann doch noch zwischen der Notfallmedizin und dem Sport, was ich jedoch als Privileg erachte: Die Zehnkämpfer sind trainierte Einzelkämpfer, die Notfallmedizin ist eine Teamsportart. Die Qualifikation, Training und Erfahrung bestimmen die Rolle im Team, aber nur gemeinsam erreicht man in einer konzertierten Aktion das Ziel. Trainiert werden kann und muss aber auch allein, nicht immer (leider zu wenig) gemeinsam. Jeder muss für sich entscheiden, welche Rolle er in welchem Team einnehmen will und ob er bereit ist die dafür notwendigen „Opfer“ an Qualifikationen und Trainingsaufwand auf sich zu nehmen. Ich sage manchmal etwas scherzhaft: „Are you ready for champions league?“ Ja, diesen Anspruch und somit Ansporn habe ich für mich persönlich gewählt und ich bin noch lange nicht am Ziel, aber ich verstehe Jeden, der für sich und seine Möglichkeiten eine andere Liga anpeilt. Denn der Preis, den ich privat wie beruflich dafür zahle ist hoch und ich bin sehr dankbar, dass mir meine Familie diese Möglichkeit einräumt und mich liebevoll sowie maximal unterstützt. Manchmal bin ich wie besessen und muss daher darauf aufpassen nicht zu übertreiben, sondern ich sollte mich mehr an den Grundfähigkeiten meines Teams orientieren – denn ansonsten geht es schief und die Gesamtperformance leidet. Ich will und kann kein „CR7“ (Christiano Ronaldo) sein, zumal mir dieses divenhafte Auftreten gar nicht liegt. Wenn ich es mir wünschen dürfte, wäre mir die Rolle eines kameradschaftlichen Mannschaftskapitäns mit Blick auf das Wohl der gesamten Gruppe am Liebsten. Hier sei auch noch mal an meinen geklauten Leitspruch erinnert: „Simply try to do your best, not to be the best.“

Abschließend zu diesem Vergleich möchte ich hier auch noch einmal betonen, dass ich überzeugt bin, dass Talent keine große Rolle für den Erfolg spielt, wenn es so etwas überhaupt gibt. Meines Erachtens ist es mehr die Motivation, Beständigkeit und Willenskraft (und manchmal auch Leidensfähigkeit), welche die Voraussetzungen für eine gute Leistungsfähigkeit sind. Topleister zeichnen sich nicht dadurch aus, dass ihnen etwas in die Wiege gelegt wurde, sondern sie arbeiten am eifrigsten, effektivsten und härtesten an sich. Eine weitere Tugend ist der selbstkritische aber konstruktive Umgang mit einer Niederlage. Zumeist sind nicht nur Andere daran schuld, sondern man hat auch dazu mehr oder weniger beigetragen. Es lassen sich aber sicherlich auch Handlungsoptionen für die Zukunft entwickeln, wie man künftig einen schlechten Verlauf abwenden kann.

 

Der zweite Vergleich, der mir in den Sinn kommt ist ein eher Fachlicher: Für mich ist die notfallmedizinische Tätigkeit vergleichbar mit einem Karteikasten voller Karten. Jeder Karte stellt hierbei eine Notfallentität dar und darauf steht mein (theoretisches) Fachwissen, nötige Massnahmen sowie die dadurch praktisch bedingten Fertigkeiten.

In der eigenen Hand liegt nun die Anzahl der Karten und was darauf steht (entsprechend der Qualifikation/Kompetenzen). Es ist wichtig, dass man nicht nur weiß was zu tun ist, sondern die angezeigten Massnahmen auch beherrscht (wobei diese mal leichter und mal schwerer fallen bzw. aus verschiedenen Gründen nicht möglich sind). Hierbei ist Demut und selbstkritisches sowie reflektiertes Denken notwendig. Sind die aktuellen Anforderungen zu hoch, so ist zu versuchen Hilfe herbei zu holen bzw. die richtigen Massnahmen in der Folge zu bahnen. Um effektiv mit den Karten arbeiten zu können braucht es eine Ordnung zwischen und eine Struktur auf den Karten, ebenso können auch mehrere Karten miteinander verknüpft sein. Dies ist höchst interindividuell unterschiedlich, weshalb es diesen Karteikasten auch nicht in Wirklichkeit im Handel gibt, ganz davon abgesehen, dass man die Karten permanent aktualisieren muss. Wir kennen es noch aus der Schule bzw. dem Studium, die Lernkarten nützen jeweils nur dem Verfasser, weil er den Inhalt individuell und personalisiert gestaltet hat.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, wie häufig man die Karten benutzt: Sprich wie viele Einsätze man abarbeitet. Dies ist auch höchst unterschiedlich vom Dienstort, der Einsatzbelastung und dem Einsatzspektrum. So braucht der Eine die Karte „Tauchunfall“ nie, der Andere die Karte „Kletterunfall“ ‚once in a lifetime‘. Andere Karten werden hingegen oft benutzt und man wird dann sogar vielleicht leichtsinnig und leichtfertig im Umgang damit. Ein Zeichen von Professionalität ist auch der Umgang mit einer Situation, für die man keine Karte parat hat. Um sie zu bewältigen muss man eine Essenz aus ähnlichen Karten analytisch möglichst schnell zusammenführen, was aber sehr anstrengend und zeitaufwendig ist, weshalb es eine seltene Ausnahmesituation bleiben sollte.

Was hervorragend funktioniert ist die eigenen fiktiven Karten im Rahmen einer mentalen Simulation (quasi als gedankliche Trockenübung) durch zu gehen. Auch hier hilft die eigene Gestaltung der Karte, denn nur man selbst kann und braucht mit den Inhalten umgehen können. Wichtig ist, dass es zuverlässig und schnell funktioniert. Die praktischen Grundfertigkeiten kann man sich so allerdings nicht beibringen, hierfür braucht es praktische Übungen welcher Art auch immer, aber man kann sich auch Skills mental wieder effektiv in Erinnerung rufen. Meiner Meinung nach wird die Bedeutung des Mentaltrainings auch in der Akutmedizin (und nicht nur wie bisher im Sport) sehr an Bedeutung gewinnen und man kann sich eines erheblichen persönlichen Benefits gewiß sein. 

 

Dieser Vergleich ist jedoch sehr fachlich orientiert, da er die sogenannten „Human Factors“ sowie „Nontechnical-Skills“ ausblendet, die mir doch auch so sehr am Herzen liegen. Es braucht jedoch einen gut sowie solide gefüllten Karteikasten, damit man sich überhaupt auf die menschlichen Aspekte seiner Tätigkeit einlassen kann, daher besteht für mich schon ein eindeutiger Bezug. Früher war ich sehr auf die Ausstattung meines Karteikastens fixiert, da er noch spärlich gefüllt und der Umgang damit keine Routine darstellte. Nun komme ich langsam auf das Niveau, auf dem ich mich nicht mehr ängstlich an die Karten krallen brauche sondern auch den Blick über den Tellerrand hin zu den menschlichen Aspekten wagen kann.

 

Als praktisches Beispiel hier mal „rein zufällig“ ein paar Einsatzsituationen, wie man sie in einem einzigen Dienst erleben kann:

 

1.)  Kinderreanimation nach Ertrinkungsunfall: Also Verknüpfung dieser beiden Karten. Seltenes, schwerwiegendes sowie potentiell belastendes Ereignis, so dass eine „innere Richtschnur“ essentiell ist. Wie war es noch einmal mit der Hypothermie? Was erwartet mich nach einem Süßwasser-Ertrinkungsunfall pulmonal im Verlauf? Welche Dosierungen und Größen braucht ein Kind mit x Jahren?

2.)  Schenkelhalsfraktur: Routine, schon oft abgearbeitet, aber wie wird man ganz individuell diesem Patienten mit seiner Vorgeschichte und Bedürfnissen gerecht?

3.)  Verbrennungsunfall: Die Aufregung vor Ort machen es nicht leicht sich die Fakts in Erinnerung zu rufen – Indikation Verbrennungszentrum, Ausdehnung und Tiefe, Infusionsmenge, Kühlung ja/nein, Zeichen und Umgang mit einem Inhalationstraumas, Indikation zur Intubation....

4.)  Verlegung NSTEMI: Oder doch nur eine Laborente? Differentialdiagnostische Gründe für eine Troponinerhöhung? Was ist der Patientenwille? Bahnung des weiteren Procederes...

5.)  Unklare Bewußtlosigkeit eines Erwachsenen: Plötzlich bewußtlos zusammengebrochen und gestürzt. SHT vs. SAB? Andere DD? Indikation zur Intubation? Wie gehen wir nochmal mit einer hypertensiven Entgleisung beim neurologischen Notfall um?

6.)  Allergische Reaktion nach Bienenstich im Pharynx: Stadien bzw. Schweregrade der allergischen Reaktion? Medikamentöse Möglichkeiten? Indikation zur Intubation? Wie würde man eine Koniotomie machen?

7.)  Unklare Bewußtlosigkeit beim Kind: Kopfschmerzen, Blickdeviation, fokale Krampfanfälle, Vigilanzminderung... Ursache? Indikation zur Intubation? Welche Dosierungen und Größen braucht ein Kind mit x Jahren? Mögliche Zielkliniken?

8.)  Verlegung infrarenales Bauchaortenaneurysma nicht disseziert: Bedrohlichkeit? Therapieoptionen mittelfristig? Blutdruck senken ja/nein? Richtige Zielklinik?...

 

Bin mir aber sicher, im nächsten Dienst werden wieder andere Karten gebraucht, genau dies ist für mich der Reiz und die Herausforderung an der Notfallmedizin!

 

Und ihr fragt mich noch, warum meine Tätigkeit meine Passion ist?