Auflösung zum Phänomen der "Pseudohypoglykämie"

Nun sind einige Tage vergangen seit meines Aufrufs, was für Erfahrungen Ihr mit einer „Pseudohypoglykämie“ habt. Natürlich ist solch eine Umfrage überhaupt nicht repräsentativ, sondern ich wollte nur auf eine scheinbar nicht seltene Problematik aufmerksam machen, die man in der Regel einfach hinnimmt, obwohl es relevante Auswirkungen auf die Performance zu haben scheint.

 

Ich habe erfahren, dass es offensichtlich viele Kinder gibt, die davon betroffen sind, aber dies war ja nicht im Zentrum meines Interesses, mir ging es mehr um Betroffene im Arbeitsleben (v.a. in Arbeitsbereichen, wo man nicht immer Zugang zu „Speis und Trank“ hat).

 

Zur Frage 1 nach dem Fachbegriff: Unten erfahrt ihr noch den Fachbegriff vom Endokrinologie-Experten, aber eine Antwort fand ich doch auch herrlich – in Bayern spricht man wohl von der „Fraßgrantigkeit“! Herrlicher Begriff!

 

Frage 2: Habt ihr selbst schon einmal so etwas an Euch bemerkt?

Natürlich haben fast nur ausschließlich die geantwortet, denen die Problematik nicht unbekannt ist bzw. die selbst davon betroffen sind. Wenn ich die Rückmeldezahlen jedoch mit dem Seitentraffic ins Verhältnis setzen, lässt sich jedoch aber feststellen, dass es überhaupt kein seltenes Problem ist.

 

Frage 3: Habt ihr es schon an Anderen beobachten können?

Hier war das Antwortverhalten lustig: Frauen gaben an sie hätten es häufig bei Kindern erlebt; Männer sagen sie kennen einige betroffene Frauen... Der Gentleman genießt und schweigt und äußert sich daher jetzt mal nicht weiter dazu.

 

Frage 4: Seid ihr ein Weiblein oder Männlein J?

Mir haben mehrheitlich Frauen geantwortet, aber ich habe mich auch sehr über die konstruktiven Rückmeldungen der Herren gefreut. Und ja, es betrifft auch Männer! Ich würde mich aber dazu hinreißen lassen unwissenschaftlich zu behaupten, dass wohl mehr Frauen als Männer von dem Phänomen betroffen sind.

 

Frage 5: Hälst Du es für einen relevanten Performance-Faktor?

Höchst interessant: Alle halten es für einen problematischen und relevanten Performance-Faktor! Viele gaben an, ihr  gewohntes Leistungsniveau dann nicht mehr erreichen zu können. Erstaunlich nur, dass lediglich wenige dagegen etwas aktiv tun, mehrheitlich wird dieser Misstand trotz der beigemessenen negativen Auswirkungen einfach hingenommen. Es scheint auch etwas Scham bei den Betroffenen zu herrschen, weil man natürlich insbesondere im Arbeitsumfeld keine Schwächen eingestehen will.

 

Frage 6: Wenn Du davon betroffen bist, realisierst Du es in der konkreten Situation? Was für „Symptome“ empfindest Du? Wurde in einer solchen Situation schon einmal der Blutzucker gemessen?

Hier wurde es richtig interessant: Manche Betroffene gaben an wie bei einer echten Hypoglykämie eine Art Amnesie zum Ereignis zu haben, insbesondere zur Situation. Viele schrieben, sie merken, dass etwas nicht stimmt, seien sich aber nicht über die mentalen und kognitiven Auswirkungen bewußt. Ein paar Rückmeldende gaben an sie würden es bemerken und würden es dann halt durchstehen.

Als Symptome wurden zumeist Gereiztheit und Konzentrationsstörungen genannt. Aber auch Schweißigkeit, Tachykardie, Tremor und Schwindel sowie eine generalisierte Schwäche wurden zurück gemeldet. Es wurden nur selten jemals in einer solchen Situation ein Blutzucker bestimmt und wenn war er zumeist im unteren Normbereich.

 

Frage 7: Hier ist Platz für alle Eindrücke von Dir zu diesem Thema, die Du mir mitteilen möchtest (Freitext)

Die meisten Rückmeldungen habe ich jetzt bereits in die Anmerkungen zu den anderen 6 Fragen einfließen lassen. Ein paar weitere Dinge muss ich erst noch etwas recherchieren und bitte hier noch um Geduld. Ein heißer Tipp war auf jeden Fall mit Prof. Seufert von der Uniklinik Freiburg als ausgewiesenen Experten im Bereich der Endokrinologie und Diabetologie in Kontakt zu treten.

 

Mit seiner Genehmigung zitiere ich hier wörtlich seine Mailantwort auf meine Anfrage. Zur Verdeutlichung habe ich ein paar Dinge markiert. Persönlich glaube ich, dass die wissenschaftlich korrekte Darstellung im Schweregrad längst nicht immer mit  Euren Rückmeldungen deckungsgleich sind. Er beschreibt da eher eine schwere und somit auch klinisch bedeutsame Form. Aber es geht mir jetzt vielmehr um den Mechanismus an sich:

 

„Die so genannte „reaktive postprandiale Hypoglykämie“ (diese Bezeichnung trifft nach meiner Einschätzung die Erkrankung am besten) imitiert im Prinzip ein Spätdumping Syndrom ohne dass Operationen am Magen-Darm-Trakt zuvor durchgeführt worden sind. Pathophysiologisch denkt man, dass es aufgrund einer Übersensitivität des endokrinen Pankreas postprandial zu einer überschießenden und verlängerten Insulinausschüttung kommt. Diese führt dann typischerweise erst verzögert nach drei bis fünf Stunden bei sehr insulinsensitiven Menschen (schlank, sportlich) zu einem vorübergehenden Abfall des Blutzuckers in Hypoglykämie-Bereiche, die klinisch mit Hypoglykämie Symptomen einhergehen können. Im englischen Sprachgebrauch heißt dies auch: noninsulinoma pancreatogenous hypoglycemia syndrome (NIPHS).

Typischerweise versuchen die Menschen dann mit schnellen Kohlenhydraten (Traubenzucker, Süßgetränken) gegenzusteuern, was dann wieder zu einer überschießenden Insulinsekretion führt und somit der ganze Zyklus von neuem beginnt. Wir haben mit diesem Krankheitsbild inzwischen sehr viel Erfahrung mit hunderten von Patienten.

Sichern lässt sich die Diagnose mit einem verlängerten (4h) OGTT mit paralleler Insulin und C-Peptidmessung.

In unserer Erfahrung ist die klinische Ausprägung der Symptome sehr variabel. Diese reicht von nahezu Beschwerdefreiheit bis zu ausgeprägten Symptomen, die die Patientin tatsächlich aus dem Berufs- und Privatleben reißen, da sie sich aufgrund der Hypoglykämie-Angst gar nicht mehr aus dem Haus trauen. Insofern würde ich in Ihrem Blog nicht von „keinem Krankheitswert“ sprechen, sondern von der Notwendigkeit der symptomorientierten Therapie.

Die Therapie umfasst als erste Stufe eine Umstellung der Ernährung auf komplexe Kohlenhydraten und Vermeidung von schnellen Kohlenhydraten. Also eher Vollkornbrot als Weißbrot usw. Umschreiben kann man dies mit „Ernährung nach niedrigem glykämischen Index“.

Es gibt jedoch eine substantielle Anzahl von Patienten die mit Ernährungsumstellung dennoch weiterhin Symptome haben. Hier kann im Einzelfall Diazoxid (Proglicem) als Medikament eingesetzt werden, da dies zugelassen ist für die Reduktion einer überschießenden Insulinausschüttung. In ganz schweren Fällen mussten wir Patienten sogar stationär mit Somatostatinanaloga behandeln.

 

Literatur hierzu finden Sie hier: 

https://www.thieme-connect.de/products/ebooks/pdf/10.1055/b-0034-54744.pdf

 

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24246338

Ich hoffe, Ihnen weitergeholfen zu haben und verbleibe mit besten kollegialen Grüßen

 

Jochen Seufert 

Univ. Prof. Dr. med. Jochen Seufert, FRCPE
Division of Endocrinology and Diabetology
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Department of Medicine II
Medical Center – University of Freiburg

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Also, was für Konsequenzen ziehe ich nun aus der kleinen Umfrage und der wissenschaftlichen Erklärung?

 

1.)  Es ist ein häufiges und relevantes Problem und es ist fast schon erschreckend, wie häufig diese Einschränkung einfach hingenommen wird. Sowohl die Betroffenen als auch das Arbeitsumfeld müssen dieses Phänomen akzeptieren, dann kann man mit wenig Einsatz meiner Meinung nach viel erreichen.

2.)  Durch eine angepasste Ernährung mit vergleichsweise niedrigem glykämischen Index kann man diese Episoden vermutlich verringern oder in ihrer Ausprägung reduzieren. Es sollte allgemein akzeptiert sein, dass Betroffene eine kleine Zwischenmahlzeit bei sich haben und auch annähernd jederzeit zu sich nehmen können. Es nützt nichts, wenn das Vesper auf der Rettungswache/Basis liegt und man diese aufgrund eines hohen Einsatzaufkommens nicht mehr erreicht. Auch wenn ich selbst nicht betroffen bin will ich mir angewöhnen immer etwas zu trinken/essen dabei zu haben, müssen ja keine größeren Mengen sein.

3.)  Es ist nur ein Performance-Faktor unter Vielen und ich will ihn auch sicher nicht überhöhen. Auch andere menschliche Schwächen wie Durst, Toilettendrang, Müdigkeit, Temperatur u.v.m. haben einen nicht unerheblichen Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit. Auch bei diesen Faktoren nimmt man einfach Vieles hin anstatt es an zu gehen. Ein bisschen Einschränkung dort, etwas da, und schon kommt in der Summe eine an sich unnötige und relevante Kombination zusammen. Dieser Form der Achtsamkeit sollten wir mehr Aufmerksamkeit schenken, schon in der Ausbildung und dann auch im Arbeitsalltag.