Es sei mir hier an dieser Stelle eine persönliche Meinung gestattet, auch wenn es sicher Menschen gibt, die diese Meinung nicht teilen.
Privat waren wir uns als Familie einig, dass die Geburten unserer Kinder in einer Klinik erfolgen soll. Grund dafür waren Erfahrungen und Erlebnisse aus unserem Beruf und somit Sicherheitsbedürfnis. Sicher kann man bei unkomplizierter Schwangerschaft, geeignetem persönlichen Umfeld und einer versierten Schwangerschaft auch eine Hausgeburt durchführen.
In Deutschland ist auch eine unbegleitete Geburt nicht verboten, also eine Geburt außerhalb eines Krankenhauses und ohne Hebamme. Als Notarzt habe ich nun zweimal so etwas erlebt:
1.) Die Eltern haben sich mittels drei Büchern (?!) auf die Geburt vorbereitet in einem komplett abgelegenen Schwarzwaldhaus. Eigentlich wollten sie eine Hausgeburt, aber sie hatten keine Hebamme gefunden, die bei nachgewiesener Beckenendlage die Geburt daheim begleiten wollte, was auch verständlich ist. Somit entwickelte es sich zu einer Protestaktion dem Gesundheitswesen gegenüber. Nach 20 Stunden heftiger Wehen haben wir die Patientin schließlich zur Notsectio in die Klinik gebracht.
2.) Zwei Stunden nach Einsetzen der Wehen kommt das zweite Kind einer Dame in der Badewanne eines engen Badezimmers im Schwarzwald zur Welt. Bereits das erste Kind kam recht schnell zur Welt, so dass eine zügige zweite Geburt erwartet werden mußte. Anderthalb Stunden nach der Geburt wurde dann ein Notruf abgesetzt, weil die Eltern sich unsicher waren wie nun weiter zu verfahren ist, bis dahin wurde das Kind beispielsweise nicht abgenabelt. Die Eltern machten keine Angaben, ob die Situation im Sinne eines psychischen Ausnahmezustands spontan und für sie überraschend entstanden ist oder ob sie in meinen Augen eher fahrlässig bewußt so die Situation herbeigeführt haben. Zu einigen Aspekten wollten sie gar keine Angaben machen.
Mir geht es hier in diesem Beitrag nicht um eine Verurteilung der Betreffenden, sondern ich finde die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Problematik sehr interessant:
1.) Juristisch: Wie gesagt ist in Deutschland eine unbegleitete Geburt nicht verboten. Nur wenn hierbei die Tötung des Neugeborenen die Motivation wäre, bestände der Vorwurf der Kindstötung. Ansonsten müßte es bewiesen werden können, dass man bewußt und willentlich das Kind schädigen wollte, was man wohl tatsächlich nicht kann. Interessant erscheint mir die Tatsache, dass Frauen nach der Geburt juristisch nicht ganz schuldfähig sind, also selbst die Rechtsprechung anerkennt, dass Frauen nach der Geburt "neben der Spur" sind. Damit will man die frisch gebackenen Mütter nicht abwerten, sondern schützen. Für Väter gilt dies aber nicht: Wenn wie im zweiten Fall der angetrunkene Papa mit dem erstgeborenen Kind mit dem Auto fahren will, so müßte er die rechtlichen Folgen tragen.
2.) Medizinethisch: Hier wird es erst recht komplex. Es besteht das medizinische Selbstbestimmungsrecht der werdenden Mutter. Sie kann entscheiden wo und wie die Geburt erfolgen soll. Bei der überwiegenden Mehrheit aller Geburten ist kein Aufenthalt im Krankenhaus zwingend erforderlich, außer es ist eine Pathologie oder ein besonderes Risiko vorbekannt. Wird die Hausgeburt durch eine Hebamme begleitet, ist man sogar dem Prinzip der Fürsorge und Verantwortungsbewußtsein nachgekommen. Auch bei einer unbegleiteten Geburt kann man bei entsprechenden Handlungen auch den werdenden Eltern die Fürsorglichkeit nicht prinzipiell absprechen. Diskussionswürdig ist jedoch die individuelle Bewertung des medizinischen Restrisikos bei Geburtskomplikationen sowie die daraus resultierende Verantwortlichkeit.
3.) Kinderschutz: Man kann sich in diesen Situationen berechtigterweise die Frage stellen, ob eine Kindswohlgefährdung vorliegt. Für die Mehrheit der Menschen sind die geschilderten Geburten wohl nicht die Art und Weise, wie man einem Neugeborenen den Start ins Leben wünscht. Bei der Meldung ans Jugendamt aufgrund des Verdachts auf eine Kindswohlgefährdung besteht auch nicht die juristische Bewertung im Vordergrund (s.o.), denn ansonsten müßte man auch die Polizei informieren. Vielmehr soll es darum gehen den Eltern nach diesen Ereignissen das volle Repertoire der verfügbaren Hilfen (sog. „Frühe Hilfen“) an zu bieten. Für die Meldung an das Jugendamt besteht bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung die Befugnis auch ohne Information der Eltern oder auch gegen deren Willen die Daten weiterzugeben. Die Meldung kann anonym und namentlich erfolgen. Wenn man wie fast alle Präkliniker damit keine Erfahrung hat, ob die Befunde oder die Situation, die man gesehen verdächtig sind und die Anhaltspunkte für eine Meldung ausreichen, kann ich die medizinische Kinderschutz-Hotline für medizinisches Personal empfehlen. Dort kann man sich rund um die Uhr kompetent und freundlich beraten lassen (08001921000). Kinderschutz fängt bereits mit der Geburt an!
4.) Sicht der Eltern: Mir steht es nicht zu und ich kann auch die Sichtweise der Eltern nicht beurteilen, da mir der rechte Einblick in die Gesamtsituation fehlt. Sicher sind die Eltern führend verantwortlich und haben ein Selbstbestimmungsrecht. Es besteht das Recht, aber eben auch keine Pflicht zur medizinisch begleiteten Geburt. Es ist sicher ein Maximum an Toleranz und Empathie gegenüber den Eltern ein zu fordern.
5.) Eigene Sichtweise: Diese spielt hier die zugegebenermaßen geringste bis gar keine Rolle, auch wenn sie sich natürlich aufdrängt. Sie darf man aber nicht übermächtig werden lassen, auch wenn man die Situation und Meinungen nicht nachvollziehen kann. Das professionelle Abarbeiten der Situation ist das vorrangige Ziel. Daher habe ich mich auch in beiden Fällen darum maximal bemüht sachlich und freundlich zu bleiben, auch wenn mich solche Situationen ehrlich gesagt zornig und wütend machen. Aber dies muß ich als Profi zurückhalten können. Schlußendlich habe ich ein hohes (und vielleicht für Andere auch überhöhtes) Sicherheitsbedürfnis, dies darf ich nicht einfach bei Anderen einfordern. Trotzdem möchte ich als Privatmensch an alle werdenden Eltern appellieren: Nutzt doch bitte alle vorgehaltenen, verfügbaren und auch bezahlten Möglichkeiten im Rahmen der Geburt aus und gönnt Euch ein Maximum an Sicherheit und Betreuung. Ich habe bei allen drei Geburten die Anwesenden als sehr hilfreich und beruhigend empfunden – niemals hatte ich das Gefühl der Störung. Das Team der Uniklinik Freiburg war jederzeit professionell, empathisch und diskret im Auftreten und Handeln.
Mit diesen Gedanken zu einem schwierigen Thema möchte ich Euch „allein lassen“ um Raum für die persönliche Reflexion zu geben, wie man zu diesem und anderen schwierigen Themen steht, in denen die eigene Sichtweise diametral vom Gegenüber abweicht. In der Psychologie heißt es korrekterweise, man muss sich erst selbst wirklich und gut kennen, ehe man auf Andere schauen kann. Natürlich würden wir zunächst aus dem Bauch heraus auch behaupten uns selbst gut zu kennen (wer, wenn nicht wir selbst?). Aber ist es hier wirklich so? Ich für mich glaube, dass da noch Luft nach oben ist. Und dies ist völlig normal und OK so, denn zu 100% kann man sich selbst auch gar nicht erfassen, denn dazu sind wir gar nicht fähig. Aber wir können daran arbeiten...
Frohe Ostern mit dieser schwierigen Aufgabe!