Brustschmerz ist und bleibt ein Leitsymptom und ist noch keine Diagnose. Eigentlich ist dies eine notfallmedizinische Selbstverständlichkeit, dass es nicht mit einem ACS gleichgesetzt werden kann, allerdings wird es bei vielen Leitstellen so gehandhabt. Dies ist auch nicht weiter tragisch, so lange die Kollegen vor Ort nicht gleich auf diese absolutistische Schiene aufspringen.
Fall 1: Einsatzmeldung ACS kurz vor 8 Uhr am Morgen als bodengebundener NA auf dem Lande in ein kleines Schwarzwalddorf. Der ca. 70 jährige Patient wird knapp innerhalb der 15-Minuten-Hilfsfrist erreicht. Er gibt an seit der Nacht etwas Schmerzen auf der Brust zu haben, die ihn nun so gestört haben, dass er sich ärztlich vorstellen möchte. Da er vor Ort als eine Art Feriengast keinen Hausarzt hat und eine ihm bekannte Ärztin am Ort nicht erreichbar ist, wendet er sich eher zufällig an die Rettungsleitstelle. Ich staune schon, als ich das unten abgebildete EKG gereicht bekomme. Außer einer arteriellen Hypertonie ist die Anamnese incl. CVRF leer. Nach der Festlegung der STEMI-Arbeitsdiagnose bei ST-Elevation in den zueinander gehörenden Ableitungen II, III, aVF fragt das RTW-Team, ob man einen RTH für den Transport ins nächste Krankenhaus mit Herzkatheterlabor anfordern soll. Der nächste RTH mit ca. 6min Flugzeit zum Einsatzort und zur Klinik ist nicht verfügbar, die nächstgelegenen RTH sind nicht unter 15 min vor Ort. Ich entscheide mich daher lieber für eine zügige Erstversorgung und bodengebundenen Transport. Der Zeitvorteil durch den raschen Transport ist schnell durch die Wartezeit und die Übergabe/Umlagerung aufgebraucht. Sollte es zur schwerwiegendsten Komplikation, dem Eintritt einer Reanimationspflichtigkeit kommen, hat man im RTW sogar bessere Karten durch die einfachere Einleitung effektiver Reanimationsmassnahmen. Das ich dies als begeisterter HEMS-Notarzt mal sage :-), aber eben alles zu seiner Zeit und mit den entsprechenden Vor- und Nachteilen, es wird wohl immer eine Einzelfallentscheidung bleiben....Die Anmeldung erfolgt sehr kollegial und freundschaftlich an meiner alten Wirkungsstätte am Universitätsklinikum Freiburg. Mir wird umgehend eine Direktübernahme im Herzkatheterlabor angeboten. Die Vor-Ort-Zeit beträgt durch den Transport zum RTW 30min, die Fahrzeit für die kurvigen 30km in die Klinik ebenfalls 30min. Schlußendlich ist knapp 2 Stunden nach dem Notruf die verschlossene RCA wieder eröffnet. Ich danke den Kollegen der internistischen Intensivmedizin (MIT) und dem Herzkatheter-Team für die vertraute und hervorragende Zusammenarbeit, das Wiedersehen war mir eine Freude und Ehre!
So kommt auch mal der Landnotarzt in die Stadt, man beachte die unterschiedliche Fahrzeugwahl auf dem Bild :-)
Fall 2: Nächtlicher Einsatz erneut als Landnotarzt und der Einsatzmeldung ACS in eine Fabrik. Bei meinem Eintreffen wird gerade ein Nachtschicht-Arbeiter in den RTW verbracht. Schon aus der Ferne ist die Pfötchenstellung zu erkennen. Bei der Anamneseerhebung gibt er einen stärksten "Herzschmerz" mit einer VAS 10 von 10 an. Ein 12-Kanal-EKG ist bei Muskelartefakten zunächst unmöglich, erst nach Rückatmung über eine entsprechende Maske und Tavor buccal beruhigt sich der Patient so weit, dass ein EKG möglich wird, in dem sich keine Ischämiezeichen zeigen. Die Anamnese ist außer einem Nikotinabusus und Adipositas leer, der ca 30 jähriger Arbeiter gibt Stress auf der Arbeit an, da Stellenstreichungen angedroht wurden. Nach der Hyperventilationstetanie gibt er auch ohne Analgesie keinerlei Schmerzen mehr an. Er wird vom RTW ohne NA-Begleitung (zur Gebietsabdeckung im ländlichen Raum) mit der Arbeitsdiagnose Hyperventilation und unklarer Thoraxschmerz in die nächste Kreisklinik gebracht, wo laborchemisch dann endgültig ein ACS ausgeschlossen wird.
Also, beispielhaft zweimal Einsatzmeldung ACS (einer der häufigsten NA-Einsatzanlässe in Deutschland) aber mit fast schon diametralen Patienten: Der Eine gibt wenig Schmerzen an und hat einen STEMI, der Andere gibt maximale Schmerzen an, leidet aber vielmehr unter einer Hyperventilationstetanie. Man kann also nicht vom Schmerz auf die Genese oder die Bedrohlichkeit schließen. Abgeklärt (wie auch immer) gehört aber jeder Patient mit Thoraxschmerz.
Hierbei ist auch in den verschiedenen Szenarien die mitunter erheblichen Unterschiede bei der Vortestwahrscheinlichkeit für ein ACS:
1.) Notarzteinsatz mit der Einsatzmeldung ACS.
2.) Patient, der sich mit Brustschmerz in der Hausarztpraxis vorstellt.
3.) Patient, der fußläufig mit Brustschmerz in die Notaufnahme kommt.
4.) Patient, welcher mit NSTEMI-ACS über den Rettungsdienst in die Notaufnahme kommt.
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Natürlich darf man hierdurch nicht in eine "Vorurteils-Falle" tappen, aber dieses Gedankenspiel erscheint mir schon recht sinnvoll und hilfreich. Für mich ist es besonders aktuell, da ich nun ja insbesondere mit den Szenarien 1 und 2 konfrontiert bin im Gegensatz zu meiner vorherigen innerklinischen Tätigkeit mit den Szenarien 3 und 4.