Aus zwei Diensten an zwei unterschiedlichen Standorten, jedoch innerhalb einer Woche, möchte ich von zwei Einsätzen berichten, von denen ich (wie von fast jedem Einsatz) etwas lernen durfte.
Fall 1:
Zunächst ein gemeldeter Arbeitsunfall (Schulterverletzung) in einer knapp zehn Meter tiefen Baugrube. Wie sich später heraus stellte ist ein ca 3kg schweres Metallteil auf den in der Grube arbeitenden Mann hinab gefallen und traf diesen im Bereich des linken Schulterblatts. Die Zugänglichkeit in die Baugrube war erwartungsgemäß erschwert und nur über eine enge schmale Behelfstreppe möglich. Unten angekommen fanden wir den Patienten auf einem Absatz sitzend vor, der Boden war mit ca 3cm Wasser nach einem Gewitter bedeckt, so dass man den Patienten eigentlich dort nicht hinlegen bzw. an ihm arbeiten konnte. Eine RTW-Besatzung hatte ihn schon mit Sauerstoff und iv-Zugang versorgt und auch eine Analgesie wurde bereits begonnen. Die alarmierte Feuerwehr war noch nicht eingetroffen, die liegende Bergung aus der Grube über Drehleiter oder Baukran schätzten wir als schwierig und zeitaufwendig ein.
Erster Patientenüberblick:
A - frei
B - Orthopnoe, fehlendes Atemgeräusch links, SpO2 unter 10l/min über Maske 91%
C - leicht tachykard, stabiler RR, Rekap normal, keine äußerliche schwere Blutung
D - GCS 15, keine Kommunikation durch Sprachbarriere möglich
E - isoliertes Thoraxtrauma mit einem Hautdefekt im Bereich des linken Schulterblatts sowie klinisches Bild einer "flail chest" mit deutlicher Beeinträchtigung der Atemmechanik.
Fremdanamnestisch hieß es, es handle sich um einen ca. 30 jährigen ansonsten gesunden Mann ohne Allergien, Vorerkrankungen und Dauermedikation.
Der klinische Eindruck war besorgniserregend, alleinig beruhigend war das isolierte Trauma. Da wir mit einer deutlich zeitaufwändigen technischen Rettungszeit rechnen mussten fassten wir folgenden Entschluss. Mit Hilfe der Arbeitskollegen ließen wir den Mann unter fortgesetzter Sauerstoffinsufflation langsam die Treppe hinauf steigen, dies bestmöglich abgestützt und gesichert durch die Anwesenden, so dass ein Absturz nach unserem Ermessen ausgeschlossen war. Lediglich zu einem Kollaps hätte es auf der engen Treppe kommen können. Oben angekommen erfolgte die Lagerung auf der bereitstehenden Trage und rascher Transport in den RTW mit Unterstützung der soeben eingetroffenen Feuerwehr. Im RTW erfolgte die Reevaluierung und erneute Monitorisierung. Eigentlich wollte ich auch noch eine Notfallsonographie durchführen, wurde aber vom klinischen Bild überholt: Mittlerweile hatte sich über der gesamten linken Thoraxseite und Flanke bishin zum Beckenkamm ein großflächiges und deutlich ausgeprägtes Hautemphysem gebildet. Die Vitalparameter waren grenzwertig stabil, dennoch entschlossen wir uns noch vor Ort zur Anlage einer Thoraxdrainage links in Bülauposition unter Analgosedierung mit Ketanest und Dormicum (Intubationsbereitschaft). Das Hautemphysem entwich lokal unter Zischen bereits bei Hautschnitt. Trotz hochgelagertem Arm und Analgosedierung war der Interkostlraum schmal und angespannt, so dass die Eröffnung der Plura deutlich längere Zeit in Anspruch nahm als eingeplant. Bei Pleuraeröffnung kam es zu einem eindrücklichen Entweichen einer großen Menge Luft im Sinne eines Spannungspneumothorax. Nach Einlage der Drainage wurde ein Heimlich-Ventil aufgesteckt und die Wunde provisorisch genäht und großflächig sowie ausgiebig verklebt. Es kam zu einem Anstieg der Sauerstoffsättigung auf 100%, die Herzfrequenz sank etwas ab und der Blutdruck stieg an. Bei erhaltenen Schutzreflexen verzichteten wir auf die Intubation und es erfolgte der stabile Transport ins nächste Traumzentrum.
Diskussionspunkte / Lehren:
- Eigensicherung auf der Baustelle wichtig
- Schlechte Zugänglichkeit, Wasser am Boden und eine erwartet lange technische Rettungszeit führten zum Entschluss der "schnellen Rettung" durch Gehfähigkeit des Patienten, welche glücklicherweise gelang. Ein Kollaps auf der Treppe wäre natürlich ein Desaster gewesen und kann daher durchaus diskutiert werden.
- Die Vitalwerte ließen nicht unbedingt einen Spannungspneumothorax vermuten, dennoch entschlossen wir uns zur Anlage einer Thoraxdrainage. Ich war negativ beeindruckt von der raschen und massiven Ausbreitung des Hautemphysems - ich stellte mir einer spätere Anlage der sicher notwendigen Drainage (egal ob Spannungspneumothorax oder nicht) bei weiter zunehmenden Emphysem immer schwieriger vor. Dennoch kann man die präklinische Anlage der Drainage kritisieren ohne schwerwiegende Beeinträchtigung der Vitalparameter. Wäre es ein polytraumatisierter Patient gewesen, hätten vermutlich andere Verletzungen eine höhere Behandlungs- und auch Transportpriorität gehabt.
- Die Anlage der Throxaxdrainage dauerte länger als gedacht, daher war ich froh, dass wir den Patienten nicht vorher intubiert hatten, was den Spannungspneumothorax sicher verstärkt hätte. Die Anlage war gut unter Ketanest und Dormicum möglich, ein Lokalanästhetikum war nicht verfügbar.
- Die präklinische Versorgungszeit (Alarmierung bis Ankunft im Schockraum) war mit einer Dauer über eine Stunde eindeutig zu lang, jedoch musste der Patient eben zunächst aus der Grube gerettet und in den RTW verbracht werden. Zudem führten wir die Drainagenanlage bewußt in Ruhe durch, da keine Einschränkung der Vitalparameter bestanden hat. Durch eine titrierte Analgosedierung konnte auch eine Intubation verhindert werden, was dem Patienten eine durchgehende Spontanatmung ermöglichte. Nach der Anlage nahm ich mir Zeit für einen adäquaten Wundverschluss, denn es wäre in meinen Augen töricht gewesen die Drainage beim Transport wieder zu verlieren und somit den Patienten zu gefährden.
- Bei kleineren jungen Patienten mit kräftiger Interkostalmuskulatur kann der schmale Interkostalspalt schnell zu einer erschwerten stumpfen Pleuraeröffnung führen, was in diesem Fall zu einer verlängerten Anlagezeit führte.
Besonderheiten aus dem Bereich der Human Factors:
- Communication / Leadership / Team-Management: Da sich das RTW- und NA-Team nicht gut kannten wurde eine Anpassung der Tätigkeiten notwendig, was sich aber durch eine bewußte Kommunikation gut machen ließ.
- Situation Awareness: In der Baugrube wurde mittels "10-für10" die Bedrohlichkeit benannt und die Rettung aus der Grube priorisiert.
- Decision Making: Ein zentraler Punkt im RTW war dann der Entschluss zur Anlage der Thoraxdrainage. Die Alternative wäre gewesen auf die Drainage zu verzichten mit dem Risiko der respiratorischen Dekompensation bei reduzierten Interventionsmöglichkeiten während des Transportes.
- Task Management: Der RTW hatte keinen sog. Kofferaufbau und eine eher bescheidene Ausstattung, so dass eher viel Material des NA-Teams benutzt werden musste, und dies bei eher knappen Platzverhältnissen. Dies machte eine gute Absprache bei der Vorbereitungen für die Analgosedierung, Thoraxdrainage und der Intubationsbereitschaft notwendig, war aber machbar.
- Feedback/Debriefung: Ein direktes Debriefing mit der RTW-Besatzung vor Ort war nicht möglich, die Debriefing-Card wurde daher ausgehändigt.
-CRM Leitsatz 1 - Kenne Deine Arbeitsumgebung: Hier war die Benutzung des Materials vom NA-Team mir sicherlich eine große Hilfe, auch wenn wir stets bemüht sind das eigene Equipment zu schonen um schnell wieder die Einsatzfähigkeit her zu stellen.
- CRM Leitsatz 2 - Antizipiere und plane voraus: Es mußte eine rasche Verschlechterung des Patienten befürchtet werden, was zunächst zum Entschluss der "Crashrettung" aus der Grube und dann zur Drainageanlage führte.
- CRM Leitsatz 12 - Re-evaluiere die Situation immer wieder: Zunächst musste eine rasche Progredienz der klinischen Symptomatik festgestellt werde, die Vitalparameter verbesserten sich jedoch nach Entlastung des Spannungspneumothorax deutlich.
- CRM Leitsätze 13&14 - Lenke Deine Aufmerksamkeit bewußt & setze Deine Prioritäten dynamisch: Es war mir bei der Fokussierung auf die Anlage der Thoraxdrainage eine große Erleichterung, dass mein Teampartner die Analgosedierung und Überwachung des Monitorings übernommen hat.