Meine Weihnachtsgeschichte 2017

Ich habe mir recht lange überlegt, ob ich aus dieser Begebenheit einen Blogbeitrag machen soll, mich nun aber doch leicht verspätet dazu entschieden, weil sie mich berührt hat und man allgemein meiner Meinung nach dadurch etwas lernen kann.

Bereits Ende November  erhielt ich über die Enkelin die persönliche Nachricht, dass eine ehemalige Patientin unserer Intensivstation verstorben sei. Dies ist zwar immer eine traurige, aber in der Akutmedizin ja keine seltene Nachricht. Erstaunlich war für mich jedoch, dass die Patientin bereits im Sommer ohne direktes kuratives Therapieziel direkt von der Intensivstation ins heimische Umfeld verlegt wurde. Ehrlich gesagt traute ich mich nicht recht nach zu fragen, wie wohl die ehemalige Patientin die letzten Wochen/Monate verbracht hat.

Kurz vor Weihnachten erhielt ich nun von der Trauerfamilie einen Brief zusammen mit einer berührenden Trauerkarte, auf der liebevoll von der Mutter, Oma und Uroma Abschied genommen wird: „Man sieht die Sonne langsam untergehen und  erschrickt doch wenn es plötzliche Dunkel wird.“

Im persönlichen Begleitschreiben bedankte sich die Familie über mich als damaliger Ansprechpartner beim gesamten Behandlungsteam für die gute Pflege, ein Lob welches man ja immer gern entgegen nimmt. Noch mehr hat es mich aber berührt zu erfahren, dass die Patientin die ihr verbleibenden Monate mit viel Lebensqualität und Freude im Kreise ihrer Familie und Freunde verbringen durfte. So eine lange und erfüllte Zeit habe ich mich während ihres Aufenthalts auf unserer Station nicht für möglich gehalten, auch wenn ich es ihr von Herzen gewünscht und dafür gebetet habe.

Bei der ehemaligen Patientin handelt es sich um eine 91jährige geistig sehr rege Dame, die sehr ländlich an einem der schönsten Fleckchen des Schwarzwalds mit ihrer Großfamilie gelebt hat. Sie musste nun wiederholt  „in der Stadt“, weit weg vom geliebten Zuhause, stationär aufgenommen werden, weil es mehrfach zu hydropischen Dekompensationen bei bekannter schwerer Herzinsuffizienz kam. Auch wenn sie eigentlich nicht mehr in die Klinik wollte, stimmte sie bei stärkster Atemnot und Todesangst mehrfach einem Notarzteinsatz und dem weiten Transport in die Klinik zu. Dort viel es immer schwerer durch Flüssigkeitsrestriktion und forcierter Diurese sowie Pleurapunktionen eine anhaltende Negativbilanz und somit eine klinische Verbesserung zu erreichen. Mit großer Tapferkeit ertrug sie die intensivmedizinischen Massnahmen, die nicht „ihre Welt“ waren, doch stets war sie höflich und dankbar. Doch manchmal konnte sie die Fassade glücklicherweise nicht halten und war tief traurig im fremden Umfeld zu sein. Ich fragte sie mal in einer ruhigen Minute, wie sie denn normalerweise daheim lebte (um den Hilfebedarf zu eruieren) und wer sich denn um die kümmern würde bzw. wie die Familie aufgestellt sei. Mit freudig funkelnden Augen berichtete sie mir von einem für mich wundervoll klingenden Leben im Schwarzwald, welche problemlos Drehbücher schöner Schwarzwald-Heimatfilme hätte füllen können. So durfte ich sie innerhalb weniger Minuten besser kennen lernen und fragte dann mutig, was sie denn von uns als Behandlungsteam erwarten würde und was ihre Wünsche für die kommende Zeit seien. Sie war mit der Behandlung trotz aller Befremdnis für die moderne Intensivmedizin sehr zufrieden, auch wenn es ihr unangenehm war, dass „die jungen Leute“ sie so intensiv auch körperlich pflegen mussten. Sie sagte, dass sie deutlich die Menschen zwischen der ganzen Technik spüre. Wünsche habe sie nicht mehr viele, denn sie blicke auf ein wundervolles und erfülltes Leben zurück. Ihr sei klar, dass es keine wirkliche Heilung mehr gibt und sie wäre auch bereit los zu lassen. Andererseits verspüre sie noch eine kraftvolle Lebensfreude, insbesondere an ihrer Familie und den eigenen vier Wänden auf dem Lande. Angst habe sie aber vor der Atemnot und der damit verbundenen Todesangst. Wie bedauerlicherweise oft auf dem Lande kann der Hausarzt  trotz seines großen Engagements nur selten zum Hausbesuch vorbeikommen und zudem war er aktuell noch für ca 3 Wochen im Urlaub, was ihre Angst deutlich verstärkte.

Ich konnte sie in allen ihren Aussagen persönlich sehr gut verstehen, und nahm die wertvollen Impulse mit in die nächsten Angehörigengespräche. Die verständnisvollen Kinder und Enkel waren sehr verständnisvoll und so konnten wir zusammen mit der Patientin das Therapieziel ändern: Zunächst legten wir fest, dass wir von einer Intubation und Reanimation Abstand nehmen würden.  Als nächstes akzeptierten wir alle im Konsens die schwere Grunderkrankung ohne wirkliches kuratives Therapieziel. Unser Ziel sollte vielmehr eine möglichst rasche Entlassung nach Hause in gutem klinischen Zustand sein, damit sie dort mit maximal-möglicher Lebensqualität Zeit mit ihrer Familie könne.

Dazu mussten wir aber erst einmal unsere Lehrbücher und Behandlungsalgorithmen beiseite legen und individualisiert einen pragmatischen Therapiekompromiss finden: Neben einer Trinkmengenbegrenzung machten wir Abstriche in der eigentlich angezeigte therapeutischen Antikoagulation ohne vorerst verfügbaren Hausarzt und setzten die Diuretika vergleichsweise hoch an. Für eine eventuell einsetzende Atemnot und Angstzustände entwickelten wir ebenfalls individualisiert einen pragmatischen Notfallplan „mit Hilfe zur Selbsthilfe“.

Ich freute mich unglaublich für die Patientin, als sie dann nach allen Vorbereitungen ihrer Familie entlassen werden konnte, blickte aber dennoch bei meinen nächsten Diensten immer zunächst auf die Belegungslisten, ob man die Dame nicht doch wieder aufnehmen musste.

Um so mehr freue ich mich nun mit der Familie, dass ihr das große Glück vergönnt war noch so lange mit so viel Lebensqualität und Freude (u.a. der Geburt eines weiteren Urenkelchens) daheim verbringen zu können. Auch ich empfinde große Dankbarkeit hierfür, denn es zeigt mir, dass wir uns damals richtig im Sinne und nach den Wünschen der Patientin entschieden haben.

 

Den Angehörigen gab ich damals schon eine Buchempfehlung mit auf den Weg, die ich auch hier nochmal platzieren möchte, denn ich habe mir durch dieses Buch sehr viel klar machen können: Atul Gawande ist ein amerikanischer Chirurg, der sich bereits mit vielen medizinethischen Fragestellungen beschäftigt und mehrere inspirierende Bücher hierzu verfasst hat. Eines hiervon heißt ins Deutsche übersetzt „Sterblich sein – Was am Ende wirklich zählt. Über Würde, Autonomie und eine angemessene medizinische Versorgung“ , erschienen bei S.FISCHER

 

Ich wünsche nachträglich nochmal frohe Weihnachten und ähnlich erwärmende und erhellende Momente, wie es mir nun vergönnt war.