Quereinstieg Allgemeinmedizin - mehr als nur einen Gedanken wert!

Nach anderthalb Monaten im neuen Job kann ich mir natürlich noch keine feste Meinung anmaßen, aber meinen ersten Eindruck von der Allgemeinmedizin kann ich schildern, zumal ich auch ständig danach gefragt werde: 

1.) Fachlich: Breiter geht es wohl nicht als das Repertoire der Allgemeinmedizin. Der eigene Anspruch an sich selbst und auch der der Patienten geht weit über AU, Rezepte und Überweisungen hinaus - da geht es permanent fachlich richtig in die Tiefe, was ich zwar fordernd, aber mega interessant finde. Täglich arbeite ich mich in Sachverhalte hinein, die ich mit Glück überhaupt und wenn dann im Studium gehört habe. Ich vermute umso weiter man aufs Land geht, um so intensiver wird die Arbeit und hat auch einen höheren akutmedizinischen Anteil. Mehr als in der Stadt, in der es vor Fachspezialisten wimmelt und die Patienten auch (mehr oder minder berechtigt) gleich das Krankenhaus aufsuchen können. Mir wurde es zwar angekündigt, dennoch konnte ich vorneweg nicht ermessen, wie oft ich akutmediznisch gefordert bin, was mir große Freude und Befriedigung bereitet. Ich schreibe bewußt von er Akutmedizin, denn es geht weit über die klassische präklinische Notfallmedizin hinaus und man hat deutlich andere Ressourcen zur Verfügung als in der gängigen innerklinischen Notfallmedizin.

2.) Arbeitsumgebung: Natürlich hängt diese extrem von der einzelnen Praxis ab und ich habe da großes Glück, aber man kann schon allgemein sagen, dass es ein deutlicher Zugewinn an Lebensqualität darstellt, wenn man keine Nachtschichtblöcke oder Wochenenddienste mehr hat. Klar, es gibt die KV-Notdienste, diese sind  aber nicht mit den Klinikschichten zu vergleichen, v.a. in ihrer Häufigkeit. Ich mach zwar Notarzt-Nachtdienste für die Praxis, und dies ist ja eine (von mir bewußt gewählte) Ausnahmesituation, ansonsten genieße ich es aber jetzt wieder mehr Nächte und Wochenendtage daheim verbringen zu dürfen, was mir viel Kraft gibt. Ich schlafe auch viel besser als zuvor, weil ich wieder einen geregelten Tag-Nacht-Rhythmus habe, zudem bin ich nach einem langen Praxistag auch wohlig platt :-)

Von der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf brauche ich gar nicht viel zu reden, die liegt auf der Hand und stellt einen großen Vorteil der ambulanten Patientenversorgung dar.

Die Teamarbeit wird in den Praxen genau so groß geschrieben wie in der Klinik, nicht nur interprofessionell sondern auch zwischen den Ärzten, mit denen man sich schnell und bedarfsadaptiert austauschen kann, die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei. Ich habe das große Glück mit großer Arbeitsfreude in einem klasse Praxisteam arbeiten zu dürfen. Und da ist der Obstkorb als Erfrischung für die Praxismitarbeiter/innen nur das Tüpfelchen auf dem I. Es zeigt allen Teammitgliedern, dass das Wohlbefinden jedes Einzelnen wichtig ist und wir ob wir wollen oder nicht in vieler Hinsicht auch ein "role model" für die Patienten sind.

3.) Menschlich: Wie heißt es so schön -  "Der Hausarzt wird mit seinen Patienten alt". An diesem Spruch ist viel dran und bringt den Hausarzt in eine privilegierte Situation. Er kennt in der Regel seine Patienten und man kann daher auf einen deutlich größeren Erfahrungsschatz und Kenntnisstand zurück greifen. Allerdings muss man seine Arzt-Patienten-Beziehung mehr als in den zumeist kurzen Klinikphasen pflegen, wie es bei anderer Gelegenheit heißt "in guten wie in schlechten Tagen". Den Kontakt mit den Patienten empfinde ich als sehr intensiv und bereichernd, und nach zwei Wochen fühle ich mich schon für MEINE mir zugeordnete Patienten im Pflegeheim verantwortlich. 

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Ich könnte noch mehr schreiben, aber ich denke es reicht für mein Anliegen ärztliche Kollegen zu ermuntern mal darüber nach zu denken, ob es nicht auch für sie interessant und in vieler Hinsicht lohnend wäre den Quereinstieg in die Allgemeinmedizin zu wagen. Wie bei den Notärzten auch, stehe ich auch hier gerne für Rückfragen (bsp. zur Genehmigung durch die Ärztekammer oder die Förderung durch die KV) zur Verfügung und kann ggf. auch den Kontakt zu Praxen herstellen, die auf der Suche nach neuen Kollegen sind. Der "Markt" ist noch lange nicht gesättigt, es besteht weiterhin großer Bedarf. 

 

PS: Nein ich bin nicht verblendet und habe auch keine rosa Brille auf. Auch in einer Praxis muss man hart arbeiten, es ist nicht alles Gold was glänzt, es gibt auch dort Ärgernisse und ich vermisse sehr die Intensivmedizin sowie auch manch anästhesiologische Herausforderung. Aber für mich in meiner aktuellen fachlichen, menschlichen, familiären und mentalen Situation ist es derzeit absolut das Richtige, ich bin sehr dankbar, dass ich diese Chance bekommen habe. Ich bin sehr froh, dass ich den Schritt gewagt habe, auch wenn es mir schwer gefallen ist, weil ich auch davor große berufliche Freude und Erfüllung erfahren durfte.